Wird die „Lebensakte“ zur Beurteilung einer Einzelmessung benötigt? Unbedingt!

Seitens der Gerichte, der PTB und insbesondere der Polizei NRW wird behauptet, die Lebensakte könne nichts zur Bewertung einer Einzelmessung beitragen und die Einsicht sei daher nicht erforderlich. Die nachfolgenden Beispiele zeigen die technische Unsinnigkeit dieser Sichweise auf und belegen die Erforderlichkeit der Lebensakte.

§ 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG gibt vor, dass der Verwender eines Messgerätes sicherzustellen hat, dass “Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät, einschließlich solcher durch elektronisch vorgenommenen Maßnahmen….aufbewahrt werden.“

Bei der Sammlung dieser Nachweise handelt es sich um das, was landläufig als Lebensakte, Geräteakte, Gerätestammdaten o.ä. bezeichnet wird.

Es ist somit zunächst einmal festzustellen, dass ein Gerätebetreiber, der auf Nachfrage mitteilt, keine Geräteakte zu führen, entgegen klarer und konkreter Gesetzesvorgaben handelt. Dabei kann es dahingestellt sein, ob die Geräteakte nur als Nachweis für die Eichbehörden gedacht ist. Relevant ist lediglich, dass sie vorhanden sein muss und – wie nachfolgend gezeigt wird – eine erhebliche Relevanz für die Beurteilung eine Einzelmessung aufweisen kann.

Insbesondere seitens der Polizeibehörden wird die Herausgabe der Lebensakte selbst im Zusammenhang mit einem Gerichtsauftrag oftmals mit dem Argument abgelehnt, eine Geräteakte würde nicht benötigt, weil die ordnungsgemäße Funktion des Messgerätes durch die regelmäßige Eichung sichergestellt sei.

Hierzu ist zunächst einmal festzustellen, dass die Beurteilung der Frage, welche Unterlagen für die Überprüfung einer Messung benötigt werden, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache 2 BvR 1616/18  selbst vorprozessual nicht Sache der Beurteilung durch Dritte, sondern vielmehr allein des Betroffenen bzw. seines Verteidigers ist. Zu den Voraussetzungen einer Anforderung des Verteidigers und der Art und Weise, wie diese zu bewerten ist, findet man in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgende Passage:

“ Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeiten Vorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungchance nachgehen

Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts außerdem, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.

Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist einem Betroffenen durch seinen Verteidiger grundsätzlich Einsicht zu gewähren, wenn er geltend machen kann, dass er sich selbst Gewissheit darüber verschaffen wolle, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten Tatsachen ergeben könnten, die seiner Entlastung dienen können.

Diese Einschätzung ist aus technischer Sicht die einzig  sinnvolle. Die Bedeutung der Geräteakte im Zusammenhang mit der Bewertung des technischen Zustandes eines Messgerätes wird nachfolgend anhand von drei konkreten Beispielen aus der Gutachtenpraxis erläutert.

Im ersten Fall war eine Handlasermessung im Rahmen eines Gerichtsauftrags zu beurteilen. Dabei war nur der Eichschein von der Eichung vor der Messung in der Akte enthalten. Der Eichschein der Eichung nach der Messung wurde auf Anforderung zur Verfügung gestellt.

Würde man sich jetzt  – der  Polizeilogik folgend –  nur an den Eichscheinen orientieren, so würden die dokumentierten Eichungen vor und nach der Messung eine ordnungsgemäße Funktion des Messgeräts belegen.

Im beschriebenen Fall ergab sich aber aus der Geräteakte, dass die Eichung zeitlich nach der zu bewertenden Messung erst bestanden worden war, nachdem die außerhalb des Toleranzbereiches dejustierte Visiereinrichtung des Messgeräts wieder auf den Sollwert eingestellt worden war.

Durch eine Recherche bei der Polizei konnte eruiert werden, dass das Messgerät bis zwei Tage vor dem Versand zur Eichung zeitlich nach der zu bewertenden Messung eingesetzt worden war. Außerdem war diese Eichung turnusmäßig und nicht infolge der festgestellten Dejustierung erfolgt. Schließlich konnte durch die Befragung der Messbeamten und des mit dem Transport beauftragten Mitarbeiters der Polizeibehörde ausgeschlossen werden, dass das Messgerät auf dem Versandweg beschädigt worden war. Es hatte sich nach der letzten Messung vor dem Versand die ganze Zeit über einem gepolsterten Transportkoffer befunden, der keinen besonderen Ereignissen wie beispielsweise einem Sturz ausgesetzt war.

Es war insofern festzustellen, dass das Messgerät trotz der deutlich dejustierten Visiereinrichtung eingesetzt worden war. Da der Zeitpunkt des Eintritts der Dejustierung nicht zeitlich eingegrenzt werden konnte, war keine ordnungsgemäße Funktion des Messgeräts zum Zeitpunkt der zu bewertenden Messung nachzuweisen. Theoretisch hätte das Messgerät nämlich schon vor oder beim ersten Einsatz nach der vorausgehenden Eichung beschädigt worden sein können.

Hätte man sich in dem beschriebenen Fall allein an den Eichscheinen orientiert, so wäre eine technische Funktionsfähigkeit suggeriert worden, die auf Basis der Geräteakte aber eben nicht nachweisbar war.

Das zweite Beispiel für die Notwendigkeit der Geräteakte betrifft die gerichtliche Überprüfung eines Rotlichtverstoßes. Aus den Unterlagen in der Akte ergab sich ein bestimmter Abstand der Induktionsschleifen des Messgeräts zur Haltelinie. Bei der Besichtigung der Messstelle zeigte sich dann allerdings, dass dieser Abstand nicht mit dem bei der Vermessung der Messstelle festgestellten Wert übereinstimmte.

Aus dem Zustand des Messbereichs ergab sich, dass die Positionen der Induktionsschleifen verändert worden waren. Für die Bewertung der Frage der Dauer der Rotzeit war bei dem betreffenden Messgerät die Lage der Induktionsschleifen von ausschlaggebender Bedeutung. Es kam dementsprechend auf den Montagezustand zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Messung an an. Dieser war erst nach Einsichtnahme in die Geräteakte zu beurteilen, da dort dokumentiert war, wann die Neuverlegung der Induktionsschleifen erfolgt war.

Der dritte Fall bezieht sich erneut auf eine Rotlichtmessung. Auch hier war die Eichung vor der Messung anhand des Eichscheins in der Akte nachzuvollziehen und es wurde zudem der Eichschein von der Eichung nach der zu beurteilenden Messung zur Verfügug gestellt. Aus der Geräteakte ergab sich allerdings, dass die Eichung nach der Messung erst durchgeführt werden konnte, nachdem die Haltelinie neu markiert worden war. Zuvor war die Eichung vom Eichbeamten vor Ort abgelehnt worden, weil die Farbe der Haltelinie stark ausgewaschen war. Da die gegenständlichen Messung wenige Wochen vor der geplanten, aber dann nicht durchgeführten Eichung stattgefunden hatte, hatte sich der Messplatz bei der zu bewertenden Messung in nicht eichfähigem Zustand befunden.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Beispiele ist die Behauptung der PTB, die Lebensakte könne eigentlich gar nichts über die Messrichtigkeit in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren aussagen geradezu abenteuerlich und zeugt – wie beispielsweise auch die Behauptung, die Messrichtigkeit könne durch eine Befundprüfung vor Ort festgestellt werden,  von einer erheblichen Praxisferne.

Das Problem mit solchen Stellungnahmen der PTB besteht darin, dass sich Polizeibehörden und Gerichte bei der Beurteilung der allgemeinen Voraussetzungen für Messungen im Straßenverkehr sehr oft auf die Ausführungen der PTB stützen, ohne diese kritisch zu hinterfragen oder  zumindest inhaltlich zu prüfen, ggfs. unter Einbeziehung einer unabhängigen Stellungnahme.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert