Auf der Website des Bundesverfassungsgerichts findet man in der Überschrift der Pressedarstellung zum Urteil in der Sache 2 BvR 1616/18 folgenden Text “Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zum Zugang zu außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen (hier: Rohmessdaten)“.
Es entsteht der Eindruck, dass im Wesentlichen über den Zugang zu den Rohmessdaten entschieden worden ist. Dies ist allerdings nicht der Fall. Die Rohmessdaten stellen lediglich eine von insgesamt neun Unterlagen vor, bezüglich derer Akteneinsicht beantragt worden war. Vor diesem Hintergrund und der häufig nicht sachgerechten Verwendung des Begriffes “Rohmessdaten“ soll nachfolgend erläutert werden, worum es sich bei den Rohmessdaten handelt und wofür diese benötigt werden.
Der Begriff “Rohmessdaten“ ist nicht gesetzlich definiert. In der Wissenschaft wird der Begriff “Rohmessdaten“ oder Primärdaten üblicherweise auf die Daten angewendet, die für den Untersuchungszweck erhoben werden.
Übertragen auf den Bereich der Verkehrsmesstechnik entsprechen die Rohmessdaten somit beispielsweise den reflektierten Laserpulsen bei den Lasermessverfahren (PoliScanSpeed oder Traffistar S350), den in elektrische Impulse umgewandelten Druckverläufen bei Messungen mit Drucksensoren (Traffistar S330), den Änderungen der Frequenzen der Schwingkreise bei Induktionsschleifen (Gatso GTC-GS11 oder Traffiphot III) oder den einzelnen Messwerten der Helligkeitsverläufe bei Messungen mit optischen Sensoren (eso ES3.0/8.0).
Bei den Rohmessdaten handelt es sich entgegen der in juristischen Kreisen weit verbreiteten Sichtweise somit nicht um irgendwelche mit der Messung in Zusammenhang stehende Daten/Unterlagen wie Lebensakten, Messprotokolle, Messdatensätze, aus den Messdatensätzen extrahierte Bild- oder XML-Dateien, sondern vielmehr ausschließlich die Daten, die das Messgerät nutzt, um den Messwert zu bestimmen.
Die Rohmessdaten werden benötigt, wenn eine bereits erfolgte Messung nachträglich aussagekräftig überprüft werden soll. Liegen keine Rohmessdaten vor, so können zwar bei den meisten Messverfahren Richtigkeitskontrollen durchgeführt werden, diese lassen aber bestenfalls eine grobe Bestimmung des Messwertes zu und sind in einigen Fällen sogar nur für eine größenordnungsmäßige, kaum aussagefähige Plausibilisierung des Messwertes geeignet.
Stehen dagegen die Rohmessdaten zur Verfügung, so besteht die Möglichkeit, das Zustandekommen des Messwerts in einem konkreten Fall anhand des Messdatensatzes selbst nachzuvollziehen. Dabei ist es erforderlich, die Rohmessdaten zu analysieren und eigene Algorithmen zu entwickeln, mit denen die Messwertbildung nachvollzogen werden kann.
Wie gut dies funktioniert, wird zum Beispiel anhand der in seltenen Ausnahmefällen zu beobachtenden LED-Fehlmessungen der Einseitensensoren eso ES3.0/8.0 deutlich. Hier konnten durch die Auswertung der Rohmessdaten nicht nur Fehlmessungen diagnostiziert, sondern auch deren Ursachen festgestellt werden. Ohne die Integration der Rohmessdaten in die Messdatensätze wäre dies unmöglich gewesen. An dieser Tatsache ändern auch die gegenteilige, unglaubwürdige Stellungnahme der PTB nicht das Geringste.
Verdeutlicht man sich den Zweck der Rohmessdaten, so ist sofort ersichtlich, dass die vom Messgerät festgestellten Primärdaten nicht bearbeitet oder selektiert werden dürfen, bevor sie in den Datensatz geschrieben werden. Greifen die messgeräteinternen Algorithmen vor der Speicherung auf das Gesamtkollektiv der Rohmessdaten zu und werden die Daten vor der Speicherung selektiert oder anderweitig bearbeitet, so handelt es sich nicht mehr um die eigentlichen Rohmessdaten.
Die Rohmessdaten lassen sich dementsprechend wie folgt definieren: Rohmessdaten sind die Daten, die die Sensorik eines Messgerät während des Messvorganges erzeugt und die nach der technisch notwendigen Filterung und Analog-Digital-Wandlung ohne weitere Selektion, Filterung oder Veränderung die Grundlage für die weitere Verarbeitung im Messgerät darstellen.
Der Argumentation der PTB und auch der Lobbyvereinigung der Messgerätehersteller (BVST), die Rohmessdaten seien ohne die herstellerspezifischen Auswertealgorithmen nicht aussagekräftig, widerspricht der allgemeinen wissenschaftlichen Verfahrensweise. So werden in vielen wissenschaftlichen Bereichen die in Versuchen gewonnenen Daten allgemein freigegeben, um sie analysieren zu können. Auf diese Art und Weise werden beispielsweise auch die im Teilchenbeschleuniger des CERN gewonnenen Rohmessdaten weltweit wissenschaftlich ausgewertet, wobei die Wissenschaftler in aller Welt allein aufgrund dieser Daten verschiedenste Hypothesen aufstellen. Warum diese Vorgehensweise bei den für sich betrachtet sicherlich komplexen, aber gegenüber einem Teilchenbeschleuniger geradezu simplen Messgeräten in der Verkehrsmesstechnik nicht möglich sein soll, ist nicht nachzuvollziehen.
So wie die Wissenschaftler am CERN nicht die einzigen Wissenschaftler sind, die die dort entstandenen Daten interpretieren und auswerten können, sind entgen der Behauptung des BVST auch nicht nur die Ingenieure und Informatiker der Messgerätehersteller in der Lage, aus der bei einer Laserscannermessung entstandenen Punktewolke Modelle zu bilden, deren Bewegung zu verfolgen und so einen physikalischen korrekten Messwert zu ermitteln.